„UM DIE WELT BEI IHREM EXISTIEREN ZU ERWISCHEN“
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Ein Nachruf auf Philippe Micol
(20.10.1955 – 3.2.2021)

Joan Didion war als Kind davon überzeugt, dass die Welt nicht existiere, wenn sie sie nicht
anschauen würde. Sie versuchte deshalb immer wieder, sich ganz plötzlich umzudrehen, um die
Welt „beim Nichtexistieren zu erwischen“. Und sie fragte sich, ob es im Augenblick des Todes so
etwas gibt wie…„dass man die Welt beim Nichtexistieren erwischt“? Vielleicht existiert die Welt
wirklich nur dann, wenn wir sie anschauen, anhören, erspüren, erriechen.

Philippe hat diese Welt ganz genau angeschaut, um sich ihrer zu vergewissern. Er hat sich nicht
umgedreht, um sie bei ihrem „Nichtexistieren“ zu erwischen, sondern sich ihr vielmehr zugewandt,
um sie bei ihrem Existieren zu erwischen.

Philippe war ein ernsthafter Mensch. Er wollte allen Dingen auf den Grund gehen. Er wollte die
Dinge erfassen können, sie zu fassen kriegen und niemand durfte ihn dabei stören. Er war ein
neugieriger, wahrheitssuchender, tiefsinniger, humorvoller Mensch, ausgestattet mit wachem
Forschergeist – der Inbegriff von Energie, Kreativität, Tätigkeitsdrang und
Durchsetzungsvermögen.

Ins Spielerische vernarrt sowohl im Denken wie auch in der Musik. Sein Denken war
wissenschaftlich geprägt, d.h. es musste seinem Wissen standhalten, der Genauigkeit, der Strenge,
der Logik und er konnte sehr unwirsch werden, wenn jemand nur herumschluderte. Trotzdem war
er immer wieder nachsichtig, da er das Unvollkommene im Menschen anerkannte. Er kannte keine
Scheuklappen, war offen für Alles und Alle. Ja, er konnte über einer Sache grübeln, sehr sogar,
manchmal stundenlang einem Problem nachsinnen, welches ihn beschäftigte und gefangen hielt, bis
er endlich eine Lösung gefunden hatte, die ihn dann aber eben auch erlöste. Wenn er schliesslich
gelöst und entspannt war, konnte er unheimlich lustig werden, getrieben von einem auch
sprachlichen Spieltrieb und Witz, einem Furor der humorvollsten Art.
Er war ein harter, oft hartnäckiger und sturer, aber immer fairer und vor allem intelligenter
Gesprächspartner, der einen forderte, meistens das noch Bessere, das in einem noch unbewusst
Schlummernde einforderte, manchmal auch leicht überforderte, der aber immer spannende und so
noch nicht, noch nie gehörte Gedanken zum Ausdruck brachte, die einen sein eigenes Leben
weiterentwickeln halfen.

Und Philipp war – das ist das Allerwichtigste – ein guter, ein wahrer, ein grosser Freund gewesen,
der immer da war, hilfsbereit, mit offenem Ohr. Ein echter Menschenfreund. Ich glaube, er wird
von vielen, von sehr vielen Menschen sehr vermisst werden.

„…jetzt ist er aber zu weit gegangen“, schrieb Adolf Muschg augenzwinkernd an Friederike
Mayröcker zum Tode von Ernst Jandl. Ist Philippe zu weit gegangen? Nein, denke ich, vielleicht
ein bisschen zu früh, aber er ist ins Weite, ins Offene gegangen, dorthin, wo wir letztlich doch Alle
hin wollen, hielte uns die Angst nicht zurück.

RIP

Philippe Micol war Initiator und Mitbegründer der Werkstatt für Improvisierte Musik in Bern im
Jahre 1982 und engagierte sich als Spieler und Organisator unzähliger Konzerte, Festivals und
Veranstaltungen in führender Rolle.

Ausgebildet als klassischer Klarinettist, spielte er Tenor- und Sopransaxofon, Bassklarinette und
Klavier.

Er erlernte die Techniken des „Ta ke ti na“ und der „Zirkularatmung“, er beschäftigte sich mit den
Konzeptionen von Cardew, Cage und Schneider, den Kompositionen von Bach, Monk und Trane,
den Spielweisen von Lacy, Parker und Brötzmann und schrieb natürlich auch seine eigenen
Konzepte und Kompositionen. Er publizierte Platten, CD’s und Bücher.

Er liebte die Klassische Musik, die Neue Musik, den Jazz und natürlich die Improvisierte Musik.

Er war ein Klangforscher erster Güte, ein Meister seines Fachs und der Freien Improvisation, ein
begnadeter Pädagoge, sowohl im Einzel- wie auch im Gruppenunterricht und für Viele war er eine
grosse Quelle der Inspiration.

Nach langen Jahren der Tätigkeit in Bern und der Schweiz insgesamt, einem Intermezzo anfangs
der Neunziger Jahre in New York, wo er dank eines Stipendiums des Kantons Bern viele Kontakte
in die amerikanische Szene hinein knüpfen konnte, verlagerte sich sein Wirkungskreis endlich Ende
der Neunziger Jahre nach Duisburg, NRW, Deutschland, wo er sich erneut eine Existenz als
Musiker, Pädagoge und Konzertorganisator aufbaute und wo er eine Familie gründete.

Neben seinen vielfältigen musikalischen Tätigkeiten pflegte er auch den Austausch mit Künstlern
und Künstlerinnen anderer Kunstsparten wie Performance, Videoinstallation, Theater und
Malerei.

Franz Aeschbacher